Psychooptisches Sehen

Ob’s das als Begriff gibt, weiß ich nicht, ich lehne mich an die Psychoakustik an, das gibt’s und besagt grob, dass der Mensch nur das hört, was er hören will.

Ich behaupte, dass es mit dem Sehen nicht anders läuft. 

Nehmen wir mal Enrico Caruso, ein weltberühmter Tenor, eine Legende. Seine zahlreichen Fans und ebenso namhafte Musikkritiker rühmen seine stimmlichen Fähigkeiten, obwohl die wenigsten ihn je wirklich gehört haben. Die Plattenaufnahmen mit ihm sind mit einer Technik erstellt worden, die noch nicht mal Telefonqualität hat, trotzdem werden Pavarotti & Co mit ihm verglichen.

Oder, wer alt genug ist, erinnert sich, die ersten Platten von Elvis, Beatles usw. Wie toll war das damals aus den quäkenden Kofferradios oder Musiktruhen im elterlichen Wohnzimmer.

Oder ein x-beliebiges Konzert, womöglich Open Air, da spielt mein Star, alles ist toll! Von wegen, die Musiker machen Fehler, die Tricks aus dem Tonstudio gehen live nicht, von Klang kann keine Rede sein, nein alle haben gehört, was sie hören wollten. 

Was hat das mit dem SEHEN zu tun?

Ganz einfach, wir stehen bei Bilderbuchwetter in einer Landschaft, um uns Wiesen, Wege, Bäume, Sträucher, Häuser, eine Bahnstrecke und ein Dampfzug.

Machen wir ein Foto, es ist einfach so schön, das müssen wir festhalten.

Nach ein paar Tagen betrachten wir enttäuscht die Fotografie, die uns den schönen Moment zurückbringen soll. Obwohl unsere Kamera sehr gut ist, richtig belichtet wurde und das Labor sauber gearbeitet hat, sehen wir jetzt etwas ganz anderes.

Die Bäume sind fast schwarz, die Wiesen eher grau und die tolle Dampflok, ein schwarzer Klumpen, die Räder muss man erahnen, das Gestänge, hatte die denn keines? Aber wir haben es doch mit eigenen Augen gesehen?! 

Was passiert da?

Bäume und Wiesen sind grün, wir wissen, dass es so ist, also sehen wir es auch, obwohl bei dem Sonnenstand mit halbem Gegenlicht in Wirklichkeit gar nichts grün war. Genauso ist es mit der Lok, sie muss rote Räder haben, das Gestänge glänzt doch silberhell! Nein, nicht bei dieser Beleuchtung und bei diesem Abstand. Genaugenommen hat sogar unsere Kamera mehr gesehen, als wir, nur kann sie nicht denken, sie ist einfach nur ehrlich. 

Wenn wir etwas wahrnehmen, vergleicht unser Hirn blitzschnell den Eindruck unserer Sinnesorgane mit Erinnerungen und Vorstellungen, das was wir zu erleben glauben ist bereits eine bearbeitete Version der Wirklichkeit, wenn wir uns nicht mit aller Kraft dagegen wehren und analytisch betrachten oder hören. Dabei geht auch unser aktuelles Empfinden mit ein, man stelle sich die Eisenbahnidylle von weiter oben nur mal mit Heuschnupfen oder nagenden Sorgen um den Arbeitsplatz vor... 

Diese „Bearbeitung der Wirklichkeit“ findet aber auch beim Betrachten von Modelleisenbahn-Anlagen statt, ja, irgendwann haben wir unsere erste Anlage gesehen, vielleicht war das der Moment, als uns der Virus befiel, mit diesem schemenhaften Bild (das ja auch bearbeitet ist) vergleichen wir seitdem die Werke, die wir oder die anderen schaffen.